Schon bei Säuglingen: Nachbarschaft beeinflusst frühkindliche Entwicklung

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BOSTON. Das Aufwachsen in besseren Vierteln fördert schon bei Säuglingen die Gehirnaktivität zeigt eine aktuelle Untersuchung. Ein verbesserter Zugang zu Bildungsmöglichkeiten in Gemeinden könne die sprachlichen Fähigkeiten und die kognitive Entwicklung von Kindern verbessern, so die Autoren.

Das Aufwachsen in Gegenden mit besseren Bildungs- und sozioökonomischen Möglichkeiten wirkt sich positiv auf die Gehirnaktivität von Säuglingen aus. Das ist Kernergebnis einer neuen Studie von Wissenschaftlern des Boston Medical Center (BMC). Das Forschungsteam von Kinderärzten, Bildungsforschern und Psychologen aus dem Bereich der frühen Kindheit untersuchte, wie die Chancen in der Nachbarschaft – die sozioökonomischen, bildungsbezogenen, gesundheitlichen und umweltbezogenen Bedingungen, die für die Gesundheit und die Entwicklung von Kindern relevant sind – mit der Gehirnaktivität und der kognitiven Entwicklung von Säuglingen zusammenhängen.

Die Forscherinnen und Forscher fanden heraus, dass Säuglinge in Vierteln mit mehr Möglichkeiten im Alter von sechs Monaten eine bessere Gehirnfunktion hatten. Diese Gehirnunterschiede schlugen sich demnach auch in einer besseren kognitiven Entwicklung im Alter von 12 Monaten nieder.

Ein Baby schaut über den Rücken seiner Mutter.
Schon die frühkindliche Gehirnentwicklung profitiert von besseren Möglichkeiten in der Nachbarschaft. Foto: Shutterstock

Das Team fand auch heraus, dass insbesondere der Faktor besserer kommunaler Bildungsmöglichkeiten mit besseren Ergebnissen in standardisierten Entwicklungsmessungen verbunden war. Stadtteile mit mehr Bildungsmöglichkeiten, beispielsweise einer qualitativ hochwertigen Betreuung in Kindertagesstätten, stellten möglicherweise mehr Ressourcen bereit, um Kinder mit kognitiv stimulierenden Aktivitäten zu beschäftigen und ihre Entwicklung zu fördern, so ihre Vermutung.

„Diese Studie unterstreicht, dass die Nachbarschaft schon im Säuglingsalter für die kindliche Entwicklung von Bedeutung ist. Unsere Ergebnisse deuten darauf hin, dass die Konzentration auf die Möglichkeiten in der Nachbarschaft, etwa die Verbesserung des Zugangs zu hochwertiger Bildung, die Neuroentwicklung von Kindern fördern kann“, so Mei Elansary, Entwicklungs- und Verhaltensforscherin am BMC und Hauptautorin der aktuellen Untersuchung.

Die Forscher sammelten ihre Daten von 65 Säuglingen in Gemeinschaftspraxen für Kinderheilkunde in den Gebieten Boston und Los Angeles. Das Team untersuchte, ob die Zusammenhänge zwischen den Chancen in der Nachbarschaft und der kognitiven Entwicklung der Kinder im Alter von 12 Monaten durch Unterschiede in der Gehirnaktivität im Alter von sechs Monaten erklärt werden können, die mittels Elektroenzephalografie (EEG) gemessen wurden. Die kognitive Entwicklung wurde anhand der Mullen Scales of Early Learning (MSEL) gemessen, einer spielerisch orientierten Messung frühkindlicher Entwicklung.

Elansary und ihre Kollegen fanden heraus, dass ein höheres Maß an Bildungsmöglichkeiten in der Nachbarschaft mit einer größeren absoluten EEG-Leistung in den mittleren bis hohen Frequenzbändern bei sechs Monate alten Säuglingen verbunden ist. Diese EEG-Messungen stünden in Zusammenhang mit besseren sprachlichen und kognitiven Leistungen im späteren Kindesalter, was auf eine neuroprotektive Rolle des Wohnens in begünstigten Wohngegenden im frühen Leben hindeute.

Nach Ansicht der Autorinnen und Autoren lege die Studie nahe, dass die Verbesserung der Chancen in der Nachbarschaft, insbesondere im Bildungsbereich, ein vielversprechender Ansatz zur Förderung der frühkindlichen Entwicklung sein könne. „Frühere Arbeiten haben sich auf die Rolle sozioökonomischer Benachteiligungen in der kindlichen Entwicklung konzentriert. Unsere Studie zielt darauf ab, die Diskussion auf Lösungen für die Verbesserung des Umfelds zu verlagern, das Kinder in der frühen Kindheit erleben, um ihre Entwicklung zu unterstützen und Ungleichheiten zu beseitigen“, so Elansary. „Angesichts der Tatsache, dass soziale Herkunft und ethnische Zugehörigkeit stark mit dem unterschiedlichen Zugang zu chancenreichen Stadtvierteln in Verbindung gebracht werden, ist es wichtig, über Möglichkeiten nachzudenken, den Zugang zu diesen Orten für alle Familien zu fördern.“ (pm)

Studie: (erschreckende) Mediennutzung von Kleinkindern – jedes fünfte besitzt eigenes Tablet

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Unfassbar
1 Tag zuvor

Die Studie belegt (mal wieder), dass in der Schule kaum noch etwas repariert werden kann, was in frühester Kindheit falsch gemacht, erlebt, vorgemacht, erlernt, angewöhnt wurde. Sogar in der KiTa ist kaum noch etwas möglich.

A.M.
1 Tag zuvor
Antwortet  Unfassbar

Welche Studien belegen ein anderes Ergebnis? Da es Kinder gibt, die trotz ihres Aufwachsens in einem nicht problematischen Milieu gut lernen können und sich darüberhinaus auch noch anstrengen, müsste es eigentlich auch andere Studien geben.

Mir ist aufgefallen, dass man längst nicht mehr so viel hört und liest über die „Entwicklungsfenster“… Und erinnere mich an viele Kinder, deren Lieblingsfächer sich geändert haben und die erfreulich schnell Lernstoff aufholen konnten. Auch wenn die sensible Phase dafür offiziell vorbei war.

Philine
1 Tag zuvor

Wie soll denn der Zugang zu „chancenreichen Stadtvierteln“ für alle Familien ganz konkret geöffnet werden? Nennen die Wissenschaftler hier konkrete Maßnahmen? Grundsätzlich ist es für mich immer etwas irririerend, wenn Forschung in Sozialpolitik übergeht.

A.M.
1 Tag zuvor
Antwortet  Philine

Irritierend fand ich die Nachricht auch. Insbesondere diesen Satz: „Das Team fand auch heraus, dass insbesondere der Faktor besserer kommunaler Bildungsmöglichkeiten mit besseren Ergebnissen in standardisierten Entwicklungsmessungen verbunden war.“ Da drängt sich mir die Frage auf, ob jemand ein Interesse an der Entwicklung weiterer standardisierter Fragebögen zur Erfassung der messbaren Leistungen von Kleinkindern hat.

Ob Windelpupser vielleicht ganz besonders unbefangen sind, wenn es um die Feststellung vorhandener Kompetenzen geht? Als der Delfin-4-Test durchgeführt werden musste, scheiterte manches redegewandte und gescheite Kindergartenkind, weil es keine Lust hatte, auf Ansage Zootiere mit Phantasienamen zu rufen oder gar den Plural von „Dapf“ oder „Dagel“ zu bilden.

Senama
21 Stunden zuvor
Antwortet  A.M.

Wenn ein Kind den Plural bei Pseudowörtern wie “Dapf” und “Dagel” korrekt bilden kann (“ zwei Dapfe”, zwei “Dagel”), zeigt das, dass es die Regel der Pluralbildung im Deutschen intuitiv verstanden und verinnerlicht hat. Dieser Test ist also sehr aussagefähig!

A.M.
16 Stunden zuvor
Antwortet  Senama

Als ob ich diese Erklärung nicht kennen würde!
Für besonders aussagefähig halten viele ErzieherInnen und LehrerInnen den Delfin 4 aber dennoch nicht. Soweit ich weiß gab es gar keine Proteste, als er endlich eingestellt wurde. (In NRW mussten allerdings über die offizielle Einstellung hinaus jene Vierjährigen noch getestet werden, deren Eltern kein Einverständnis zur Führung einer Bildungsdokumentation erteilt haben.
Da der Test später auch noch nach Sachsen oder Sachsen-Anhalt verkauft wurde, frage ich mal, ob er dort mehr wertgeschätzt wurde…?
Und was auch interessant wäre: Wie viele Steuergelder gingen für die Testentwicklung und wie viel für die Durchführung drauf?

Bernd Schneider
1 Tag zuvor

Oh nein, wie schlimm!!

Rüdiger Vehrenkamp
1 Tag zuvor

Auch bei vielen Zugängen zu Bildungsangeboten: Den Weg durch die Tür müssen die Menschen dann schon selbst gehen. Wir vermitteln immer wieder Bildungsangebote an sozial schwache Menschen, angenommen werden sie jedoch nur selten. RTL und Smartphone sind für bildungsferne Menschen leider interessanter.

Indra Rupp
1 Tag zuvor

Ich habe während des Lesens darauf gewartet, dass gleich so ein Hinweis kommt, das auch Kinder, die familiär benachteiligt sind, in diesen Gegenden profitieren und mich gefragt, wie das sein kann, da Kinder mit sechs Monaten doch meist nur Zuhause bei ihren Eltern sind. Aber da dieser Hinweis gar nicht kam, ist der Grund ja plausibel : In diesen Gegenden wohnen sozial stärkere und finanziell weniger belastete Menschen, unter anderem begründet durch gute Integration, familiärem Rückhalt, Zukunftschancen usw. Für diese Menschen ist Bildung üblich, macht Sinn und funktioniert. Sie sind nicht isoliert, vereinsamt. Entsprechend sind ihnen nicht die Hände gebunden. Entsprechend sind sie weniger krank, sowohl physisch als auch psychisch. Kurz, es geht ihnen gut genug, um keinen Tunnelblick zu haben, nicht depressiv gelähmt zu werden, nicht irrational durch mentalen Stress zu agieren – und all dies mit der Zeit als normalen Zustand zu bewerten und gar nicht mehr auf die Idee zu kommen, etwas anderes zu priorisieren.
Kurz, Kinder mit sozial und finanziell starkem Hintergrund erfahren natürlich schon als Baby durchschnittlich mehr Kommunikation, mehr positive Sinneseindrücke, mehr Kreativität und sind entsprechend fitter als benachteiligte Kinder. Das diese starken Kinder in starken Gegenden wohnen ist einfach so und nur eine Begleiterscheinung. Positive Auswirkungen hat diese Gegend auch nur, weil die Eltern sie positiv nutzen (Spaziergänge, Spielplatz,…).
Es liegt also letztendlich an den Eltern, mit denen die Babys ja den ganzen Tag zusammen sind. Eine sozial schwache Familie in so eine Gegend zu setzen kann natürlich dazu führen sich ein Beispiel zu nehmen und aus dem Ghetto heraus zu kommen. Hängt dann aber auch wieder von den Eltern ab, weil Babys dies nicht entscheiden können.
Vielleicht könnte sich in Studien diesbezüglich differenzierter ausgedrückt werden. Ansonsten sieht es so aus, als müsse man nur den Wohnort wechseln und schon würde das smartphonefixierte Baby wie von Zauberhand schlau.

Indra Rupp
1 Tag zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Ich weise hier noch einmal darauf hin, dass es in dieser Studie um Babys (!) ging. Auf ältere Kinder wirkt ein positives Umfeld aufgrund von Nutzungsmöglichkeiten (Kita, Schule, Freundeskreis, Freizeitangebote ) selbstverständlich positiv! Auf Babys könnte allenfalls beim Spaziergang eine positivere Stimmung der Umgebung wirken. Viel wahrscheinlicher ist, dass es auf die Eltern wirkt und von diesen wiederum auf die Kinder. Also immernoch die Eltern.

Ukulele
21 Stunden zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Schätze ich ähnlich ein. Der Artikel beschreibt lediglich eine Korrelation. Einen Nachweis für den im Artikel behaupteten Ursache-Wirkungsmechanismus kann ich nicht erkennen.

Lisa
18 Stunden zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Vernachlässigt wird da die Umweltbelastung. Wir haben ein Viertel, da führt eine vielbefahrene Straße durch, links und rechts liegen zwei Meter oder weniger entfernt die Wohnblocks. Ich denke an die Feinstaubbelastung für Babies und Kleinkinder.
Armutswohnungen sind auch oft feucht, haben wenig Tageslicht, beengt und haben ein Schimmelproblem. Auch hier könnte es konkrete Auswirkungen geben.
Ich kenne eine Familie eines Schülers, da war der jüngere Bruder hochallergisch und schon als Baby immer krank. Eine andere Wohnung hat die Familie aber nicht gefunden, obwohl sie das wusste. Auch solche Verhältnisse könnten kognitive Auswirkungen haben.

potschemutschka
1 Tag zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Sehr gut erkannt und zusammengefasst! Passt zum Artikel mit den Bildungschanchen für Akademiker- und Nichtakademiker-Kindern.

Mika
1 Tag zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Sagen Sie hier tatsächlich, dass Eltern aus einem sozial benachteiligten Milieu die im Vergleich schlechteren Eltern sind?

Mr X
1 Tag zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Ja es wäre schön, wenn diese Studien zwischen Korrelation und Kausalität unterscheiden würden.

Sina
19 Stunden zuvor
Antwortet  Indra Rupp

Die Daten dieser Studie wurden wie im Artikel dargestellt in den USA erhoben. Dort ist es üblich die Kinder bereits mit 3 Monaten oder sogar noch früher in eine Betreuungseinrichtung zu geben und wieder arbeiten zu gehen. Die besser gestellte Gegend bedingt hier auch die besser ausgestattete Betreuungseinrichtung oder ermöglicht sogar eine längere Betreuung zu Hause. In den USA und auch in anderen Ländern wie z.B. Frankreich haben diese Einrichtungen somit erheblich früher Einfluss auf die kindliche Entwicklung als in Deutschland.

A.J. Wiedenhammer
20 Stunden zuvor

Kann es vielleicht sein, dass ökonomisch starke und auch bildungsaffine Familien bevorzugt in Viertel streben, die sie als förderlich für die Entwicklung ihrer Kinder ansehen?
Mich interessiert wirklich, wie die Studie methodisch aufgestellt war, dass man annähernd vergleichbare Probandengruppen generieren konnte, die sich dann tatsächlich nur in dem Punkt der „Umgebung“ unterschieden.

Für mich hört sich das -zusammen mit der überschaubaren Anzahl der Probanden – sehr nach einer unsauberen Trennung von Ursachen und Korrelationen an.

A.M.
16 Stunden zuvor

„Kann es vielleicht sein, dass ökonomisch starke und auch bildungsaffine Familien bevorzugt in Viertel streben, die sie als förderlich für die Entwicklung ihrer Kinder ansehen?“ Eine naheliegende Frage, die mich auch skeptisch gestimmt hat.

Bei uns gibt es „Brennpunktkitas“ in „Brennpunktvierteln“, die über Jahre von (mehreren) Kindern deutscher Familien bis zum Schuleintritt besucht werden. Flüchtlinge hingegen, die Wert auf Bildung und Erziehung und das Umfeld ihrer Kinder legen, setzten alles dran, um schleunigst in eine bessere Wohngegend zu ziehen. Das schaffen diese Familien, auch dann, wenn sie wenig Geld zur Verfügung haben.

Mitlesende Mutti
19 Stunden zuvor

Der vermittelnde Faktor „Eltern“ wurde hier m.E. vergessen.

Bessere Wohngegend schließt auf höheren sozioökonomischen Status der Eltern, der idR auf einer besseren Bildung der Eltern oder Eltern mit einer einst guten Kindheit fußt. Das ist die Grundausstattung, die die Eltern mitbringen. Hinzu kommt, dass in Familien mit besserem sozioökonomischen Status auch weniger Stress herrscht. Wirkt sich positiv auf das Baby aus.

Natürlich können Gegenden mit besseren Bildungsangeboten auch nachträglich korrigierend/unterstützend auf Eltern wirken.